09.06.1990 10:59 Uhr
 
 Es ist ein Junge. Schreie hallten durch den Hörsaal. Größe 49cm – Gewicht 3250g... alles schien normal.  
Doch mein noch so junges Leben sollte nicht reibungslos weitergehen.
Ich bekam alles ungefähr so von meinen Eltern erklärt:

Dein erstes Lebensjahr verbrachtest du fast nur im Krankenhaus. Lediglich deinen Geburtstag konntest du daheim feiern. Du hattest einen organischen Geburtsfehler. Ein paar Zellen deines Dickdarm haben nicht mitgearbeitet. Das aber haben die Ärzte im Hochwaldkrankenhaus nicht festgestellt. Also wurdest du nach ein paar Monaten in Frankfurt Höchst eingeliefert... Alle die in Rockenberg blieben, hofften mit dir, dass du diesen Ort lebend wiedersehen wirst.
Die nicht mitarbeiteten Zellen deines Dickdarms wurden herausgenommen und durch andere ersetzt. Deshalb die ganzen Narben auf deinem Bauch.
Da vor allem zu Beginn deines ersten Lebensjahres nicht klar war, ob du das alles überlebst, haben wir damals einen Organspendeausweis ausgefüllt, damit andere Babys mit deinen gesunden Organen weiterleben können.
Danach warst du in Butzbach bei einer netten Dame für zwei Jahre in Therapie.  Dort war Lars der Eisbär dein Lieblingsbuch, aus dem sie dir viel vorlas.

Das Einzige was ich wirklich noch von der ganzen Zeit, den 5 Jahren meines Lebens weiß, ist wo das Haus in Butzbach steht und dass Lars der Eisbär wirklich eines der Bücher war, aus dem ich vorgelesen bekam. Denn eines der Buchreihe habe ich mit Widmung meiner damaligen Therapeutin zu meiner Entlassung geschenkt bekommen. Wie sie heißt oder gar aussieht oder wie es mir damals ging und ich mich fühlte, an all das kann ich mich nicht mehr erinnern. 

Und nun die Worte und Fakten aus Krankenunterlagen und Gutachten zu all den Erzählungen.

13. Juni 1990: Erst 4 Tage alt und schon in Gießen, aber leider nicht aus Spaß. Ich wurde in die Universitätsklinik Gießen eingeliefert. 4 Tage lang stand ich eine Infusionstherapie durch und nach 14 Tage stationärer Behandlung wurde ich nach Frankfurt verlegt.
07. Juli 1990:
Aus den Unterlagen des städtischen Krankenhauses Frankfurt am Main – Höchst:

Befund bei Aufnahme:

[...]
4 Wochen alter, unruhiger männlicher Säugling in leicht reduziertem AZ (Allgemeinzustand). Bewusstsein klar ... [und sonst auch alles mehr oder weniger in Ordnung]...

Verlauf:

[...]
Zur Vervollständigung der Hirschsprungdiagnostik wird am 1.8 eine Mehrtagenrectumbiopsie durchgeführt
[...]
Zur Vervollständigung der Stoffwechseldiagbostik wurde am 13.8 eine Dünndarmbiopsie durchgeführt, dabei sämtlich Normalbefunde.
[...]

Zusammenfassung:

Bei Patrick konnte die unter der Klinik eines Subileus mit beginnender Enterocolitis gestellte Verdachtsdiagnose eines Morbus Hirschsprung bioptisch bestätigt werden. Patrick ist zunächst mit zwei endständiger Transversostomata versorgt, eine praeoperative erneute Mehretagenbiopsie und Durchzugsoperation sollte im Alter von ca. 7 bis 8 Monaten stattfinden. Zwischenzeitlich bitten wir um regelmäßige ambulante Vorstellungen in der Kinderchirurgischen Sprechstunde unseres Hauses, bei Herrn Professor Dr. [...].

Die fortbestehende Milchunverträglichkeit ließ sich durch die bisher durchgeführte Stoffwechsel-Diagnostik und Dünndarmbiopsie nicht weiter eingrenzen.
Ebenso sollten einige gelegentliche Kontrollen durchgeführt werden.

Wir empfahlen daher zunächst ein Belassen der kleinen Patienten auf alfaré und empfehlen einen erneuten Umstellungsversuch unter klinischer Kontrolle im Alter von 5 bis 6 Monaten. Dann wäre ggf. erneute bzw. weiterführende Stoffwechseldiagnostik nötig.

Letzte Nahrung: alfaré 15%

Entlassungsgewicht: 4.220g. Kopfumfang: 36cm, Körpergröße: 57cm. 

Bei Entlassung guter Allgemeinzustand, im Stomabereich sehr gute Haut- und Schleimhautverhältnisse.
 

Das war mein ärztliches „Gutachten“ vom 12. November für die Zeit vom 07. Juli bis 15. August 1990.
Von der Zeit vom 06. – 25. Februar 1993 wurde ebenfalls in Frankfurt Höchst behandelt, wieder wegen den ständig andauernden Folgen des Morbus Hirschsprung.    

 

Die Therapie
Beginn: 6/93 – Ende: 7/95

[...]

Datum 15.10.93 Butzbach

betr.: Patrick Leander, [...]

hier: Stellungnahme zum Antrag der Eltern auf Sonderregelung bei Aufnahme des Kindes in den Kindergarten Rockenberg

P. befindet sich z.Zt. bei mir in kinderpsychosomatischer Reaktion in einer Entwicklungskrise.
Seit seiner Geburt erlitt er durch mehrmalige extreme Schmerz- und Trennungserfahrungen (Operationen, Klinikaufenthalte) schwere Traumatisierungen.
Trotz dieser Beeinträchtigungen ist Patrick ein altersgemäß entwickeltes Kind, aufgeweckt, sprachgewandt, offen und interessiert, mittlerweile auch tags und nachts sauber und trocken.
Durch die frühkindlichen Schädigungen ist er tendenziell ängstlich und verliert schnell Selbstvertrauen. Er benötigt regelmäßige, überschaubare Sozialerfahrungen im Spielkontakt mit gleichaltrigen Kindern, wie sie im Kindergarten geboten werden können.
Ich befürworte daher eine probeweise Aufnahme des Kindes in die Nachmittagsgruppe (die Gruppen sind dann kleiner und weniger überfordernd, die Betreuer haben mehr Möglichkeiten der Zuwendung) zu einem möglichst baldigen Zeitpunkt.
Eine Aufnahme des Kindes in den Kindergarten parallel zur Kinderpsychotherapie könnte eine sinnvolle wechselweise Ergänzung sein.
Falls Interesse Ihrerseits besteht, biete ich Zusammenarbeit an.

Mit freundlichen Grüßen
[...]

Wie sich dieser Geburtsfehler tatsächlich noch weiter auf mein bisheriges Leben ausweitete, kann unter Die vergessene Krankheit nachgelesen werden.

Kindergarten

Für die meisten Kinder ist der Kindergarten das erste Zusammentreffen mit gleichaltrigen Rackern außerhalb der eigenen Nachbarschaft. Für mich war es endlich die Erlösung der vielen OPs und der ständigen Isolation der restlichen Zivilisation. Ich lernte viele neue Gesichter kennen von denen die meisten mir auch heute noch erhalten geblieben sind. Ich war ein ganz normaler Junge.
Nur als ich 5 ½ Jahre alt war, merkte ich, dass außer der vielen Narben an meinem Bauch irgendetwas nicht stimmte. Ein Teil der Kinder mit denen ich die letzten Jahre verbracht hatte, gingen nun in die Schule. Nur ich blieb hier.
Der Grund war meine frühere Therapeutin; aus meinen Akten entnahm ich folgendes:

Datum 8.2.96

[...]
Durch die häufigen Krankenhausaufenthalte verfügt Patrick jedoch noch nicht über altersgemäß umfangreiche Sozialerfahrungen außerhalb des Elternhauses, die ihn für einen regulären Schuleintritt stabilisieren könnten.
Ich empfehle, diesen „Nachholbedarf“ an sozialer Integration durch Verlängerung der Kindergartenzeit um ein Jahr (besser wäre eine Einschulung in eine „Eingangsstufe“, was am Heimatort aber nicht möglich ist) auszuräumen.

Die Eltern sind mit diesem Anliegen in Übereinstimmung.
[...]

So wurde der erste Baustein für fast alle meiner folgenden Klassenkameraden gesetzt. Ich nahm es ganz ruhig, dass ich noch ein weiteres Jahr im Kindergarten mit Bauklötzern spielen durfte, denn an diesem Ort fühlte ich mich sehr wohl.
Dieses Jahr ging auch schnell rum und es folgte meine Einschulung.
Nun sind 7 Jahre meines Lebens rum und ich habe bereits soviel durchgemacht, wie manch einer in seinem ganzen Leben nicht.